Wer bin ich? Ideale, Realität und der innere Kritiker

Mein Idealbild von mir selbst, sieht in etwa so aus:

    • Ich stehe morgens gut gelaunt um 6 Uhr auf. (Sonntags um 7.) So habe ich viel Zeit für all die Dinge, die ich tun werde. Außerdem zeugt es von Potenz und Energie.
    • Ich meditiere. 45 Minuten mindestens. Spätestens jetzt bin ich ganz bei mir. Mein Geist ist frei von Sorgen, Ängsten, Ärger und Gedanken an die Zukunft oder Vergangenheit. Mich bringt nichts mehr aus der Fassung. Ich ruhe in mir.
    • Dann mache ich 1 Stunde Sport. Mindestens. Den mache ich, um körperlich fit und gesund zu sein und ordentlich zupacken zu können. Mit den wohldefinierten Körperformen und dem Waschbrettbauch erfreue ich meine Frau und mich selbst. Ich finde mich schön und etwas dafür getan zu haben, gibt mir die tägliche Dosis Selbstwirksamkeit. (So viel Ego gestehe ich meinem Idealbild zu.)
  • Den Beziehungstests und Stimmungsschwankungen der Frau (Vorwürfe, gefährliche Fragen – „Wie findest Du den Pulli an mir“, allgemeine Unzufriedenheit) begegne ich mit einem liebevoll souveränen Lächeln und durchdringe sie mit so viel Liebe und Präsenz, dass Sie innerhalb von 45 Sekunden Tiefenentspannt ist und sich vertrauensvoll an mich lehnt. Ich bin der Fels.
  • Ich bin geistreich humorvoll. Wobei ich Ironie vermeide. Das wäre Ausdruck unterdrückter Wut. Unreif.
  • Meine Gefühle zeige ich. Meiner Bedürfnisse bin ich mir bewusst.
  • In Auseinandersetzungen bleibe ich klar, spreche nur von mir, ohne den anderen zu beschuldigen oder mich zu rechtfertigen und es gelingt mir auch im heftigen Streit, achtsam und emphatisch mit meinem Gegenüber zu bleiben.
  • Ich bin sehr beliebt und erfolgreich. Wobei es mir nicht um Geld oder Macht geht. Der Erfolg ist vielmehr Ausdruck meiner kreativen Schöpferkraft. Er ist quasi ein Nebenprodukt meiner disziplinierten und freudigen Lebensweise, dass sich immer bei den Menschen einstellt, die in sich ruhen, authentisch sind und ihre positive Energie strahlen lassen. Für andere wirkt das Attraktiv und sie kommen, um zu partizipieren und sich davon inspirieren zu lassen.
  • Apropos kreative Schöpferkraft. All meine kreativen Ideen setze ich zeitnah in die Tat um. Die dafür notwendigen Räume, Menschen und Werkzeuge fliegen mir zu.
  • Für die Kinder bin ich täglich mehrere Stunden präsent. Richtig präsent. Das Spiel mit Ihnen beflügelt meine Kreativität und damit meinen Erfolg, meine Attraktivität und die Partnerschaft.

Der Kritiker

Mein Kritiker sieht die Realität komplett anders. Und der Kritiker hat sich zur Aufgabe gemacht, erst dann zufrieden zu sein und Ruhe zu geben, wenn das Soll erreicht ist. Das Soll ist 100%. Logisch. Das fatale ist, dass er auf der argumentativen Ebene, gemessen an seinen 100% und im Vergleich mit dem Idealbild immer Recht hat. Ich erreiche so gut wie nie 100%. Und wenn doch, ist die Reaktion ein „OK, geht doch. Und was ist mit dem Gerümpel in der Garage?“. Nur nicht zu viel Freude und Selbstbeweihräucherung.

Unweigerlich ergibt sich daraus, dass ich mich selbst immer wieder als ungenügend und nicht OK erlebe. Ich bekomme es nicht hin. Ich bin nicht gut genug. Ich bin faul, schwach, undiszipliniert, beziehungsunfähig, talentfrei, zu blöd, zu viel davon und zu wenig davon.

Vergleichen mit anderen

Der Kritiker hat noch einen Trumpf im Ärmel: Den Vergleich mit anderen.

  • Als sportliches Vorbild dient der Bruder. Der geht jeden Tag 2 Stunden trainieren und sieht auch so aus. Außerdem ist er deutscher Meister im Tischfußball. „So gut werde ich nie.“
  • Micha steht morgens schon um 5 auf und hat bereits vor dem Frühstück 3 Bäume ausgerissen. Irgendwann dazwischen hat er 30 Minuten Yoga gemacht und seine 4 Kinder zur Schule begleitet. Er ist nicht nur jung und super attraktiv, sondern auch in höchstem Maße authentisch, hat zwar kein Geld, aber schon alles andere. Was ein Typ. „So will ich auch sein.“
  • Rainer arbeitet nur noch 5 Stunden, von morgens 4 bis um 9. Das ist seine „kreative Phase“. Stundensatz 280 Euro. Die Stunden rechnet er zudem dreifach ab. Weil er so schnell ist und ihm das sonst keiner glaubt. „Wenn ich so wäre, hätte ich ausgesorgt.“
  • Und dann gibt es noch Anne. So viel Herz in einem einzigen Menschen ist unglaublich. So bescheiden, liebenswert, wertschätzend, emphatisch und umwerfend wunderbar – Buddha ist eine Frau. „Was soll ich da Coach und Trainer werden…“

Selektive Wahrheit

Was der Kritiker natürlich verheimlicht, ist die Tatsache, dass er immer nur einen Bereich heraus pickt und sich in diesem Bereich den Besten raus sucht. Das ich gleichzeitig viele Bereiche habe, in denen ich etwas kann, was diese Person nicht auf diese Weise beherrscht, zählt in diesem Moment nicht. So mache ich mich zielsicher zum Verlierer, denn ich bin in diesen Vergleichen immer schlechter. In allem. Und wenn es dann etwas gibt, in dem ich doch so wirklich richtig gut bin, dann schätze ich es nicht in diesem Maße. Das ist dann „normal“ und „nichts Besonderes“.

Das Idealbild ist gut

Wir brauchen das Idealbild von uns selbst. Es ist unser inneres Vorbild. Unser ICH wie es im höchsten Sinne gemeint ist und in vielen Momenten bereits durchscheint. Das Idealbild gibt uns eine Richtung, in die wir gehen und unsere Energie lenken. Es ist der Teil, der mich daran erinnert, wer ich wirklich bin, der mich in Krisen durchhalten und wieder aufstehen lässt und der mich motiviert, die schönste Vision von mir selbst Wirklichkeit werden zu lassen.

Herz oder Ego

Wichtig ist nur, zwischen dem Idealbild des Ego und dem des Herzens zu unterscheiden. Das Idealbild des Ego hat meist viele materielle oder repräsentative Vorstellungen. Reich sein, berühmt sein, besser sein als andere. Es grenzt sich gerne von anderen ab. Wäre gerne besonders und will darin bewundert werden, ist in der Folge aber einsam und getrennt.

Das Idealbild des Herzens kümmert sich um das eigene Wohl und das der anderen. Es schließt ein statt sich trennend abzugrenzen. Es sieht die eigene Besonderheit als gegeben und verschenkt seine Talente an die Welt. Es weiß:

Liebe und Freude werden vermehrt, wenn sie verschenkt werden.

Brav und nett bleiben

Was wir nicht brauchen, ist den omnipräsenten Kritiker und seine Vergleiche mit anderen. Er hält uns klein und sabotiert jeden mutigen Versuch, großartig zu sein. Denn wenn wir plötzlich großartig wären, wäre er überflüssig. Und er wurde doch so mühsam durch Schule, Erziehung und all die Menschen, die wissen was „Richtig und Falsch“ ist, installiert. Er ist die Stimme der Eltern, der Lehrer und all der „Ordnungshüter“ unseres Lebens. Er ist der Beschützer der veralteten Konzepte. Diese taugen zwar nicht mehr, aber sorgen dafür, dass wir weiterhin brav und nett sind und so bleiben, wie wir geformt wurden. So sind wir geliebt, ungefährlich und in Sicherheit.

Der versteckte Widerspruch

Das Wirken des Kritikers ist bei genauer Betrachtung pure Ironie und eine dieser unlogischen Lebenseinstellungen. Denn er proklamiert Großartigkeit und vergleicht mich mit Großartigem, verhindert aber genau dies selbst zu sein. Und dort, wo ich für andere schon lange sichtbar großartig bin, erkennt er es nicht an. Er bedient sich meinem hohen Ideal und missbraucht es für sein alltägliches Drama. Damit hält er sich selbst am Leben und sorgt dafür, dass alles so bleibt wie es ist.

Abschießen hilft. Oder in den Arm nehmen

Immer öfter gelingt es mir, den Kritiker einfach abzuschießen. All die Stimmen im Kopf, die mich daran hindern, den nächsten mutigen Schritt zu tun, oder mir sagen, das ich noch nicht gut genug bin. Virtuellen Colt zücken und abdrücken. Es reicht schon, wenn er einfach still ist. Seinem Drama zuzuhören ist vergeudete Lebensenergie.

Oder es gelingt mir, ihm wirklich zuzuhören.

Wofür bist du da? Was ist deine Absicht?

Im Prinzip will er nur, dass es mir gut geht und das ich sicher bin. Er will mich vor Gefahren und erneutem Schmerz bewahren. Er ist ein Teil von mir, Teil meines Sicherheitssystems und will mich unterstützen. Eine gute Gelegenheit, das anzuerkennen, ihm zu danken, ihn aus dem alten Job zu entlassen und ihm einen Neuen zu geben. (Diese Übung braucht Zeit und ist besonders kraftvoll mit einem Gegenüber oder in einer Gruppe. Sie kann auch Teil einer Aufstellung sein.)

Und es tut ihm gut, einfach mal in den Arm genommen und anerkannt zu werden, anstatt immer nur lästig zu sein.

Was kannst Du gut? Unterstütze Deinen Selbstwert

Der innere Kritiker ist oftmals sehr mächtig. Er schwächt den eigenen Selbstwert permanent und meist unbemerkt. Um diesen wieder zu stärken, ist die folgende Übung wunderbar – und einfach.

Erzähle Deinem Freund oder Deinem Partner, was Du alles gut kannst. Lasse auch die Unwichtigkeiten nicht aus. „Gut einparken“ zum Beispiel, oder „Leckeres Brot backen“. Du kannst es bis hin zu „Gut laufen und gut atmen können“ ausführen. Bei mir stellt sich dann eine tiefe Dankbarkeit für meinen Körper ein. Auch ein Teil von mir.

Lass Dir von Deinem Gegenüber wiederholen was er gehört hat. Danach darf er Dir berichten, worin er gut ist. Ist gerade kein Gegenüber da, nimm Dein Notizbuch. Aber Achtung! Auch das könnte ein Trick Deines Sicherheitssystems sein, Dich nicht mit Deiner Großartigkeit einem anderen Menschen gegenüber zu zeigen. Nutze also die Gelegenheit und Beschenke Deinen Freund mit einer solchen Begegnung und teile der Welt mit, wer Du bist.

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