Was ist meine Verantwortung?

Immer wieder gebe ich anderen Menschen oder Dingen in meinem Leben die Schuld daran, das ich mich gerade schlecht fühle, oder es nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe. In dem Gefühl des Grolls und Ärgers kann ich dann Stunden lang verweilen und alles blöd finden. Vor allem aber fühle ICH mich dabei schlecht und übersehe, dass ich es vermeide, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Verantwortung zu übernehmen heißt nicht, dass ich das was ist gut finden muss, aber wenn ich in die Verantwortung gehe, kann ich es ändern und mein Gefühl wird sich ändern.

Ein klassisches Beispiel aus meinem Alltag…

Nach einem langen Seminar-Wochenende steige ich erschöpft in den Bus, um nach Hause zu fahren. Es ist viel Verkehr und ich verpasse meinen Anschluss-Zug nach Stuttgart um 3 Minuten. Die zwei noch verbleibenden möglichen Verbindungen am Abend sind unzumutbar (ewig lange, viele Umstiege, erst nach Mitternacht zuhause). Ich entscheide mich bei der Schwester in der Nähe zu übernachten und am nächsten Morgen weiter zu fahren. Als ich am kommenden Morgen mein nicht genutztes Ticket umbuchen lassen möchte, ist am Schalter die Schlange so lange, dass ich den geplanten Zug erneut verpassen würde. Also kaufe ich eine Fahrkarte, um keine Strafe wegen Schwarzfahrens zu bekommen. Ein Bahnangestellter, den ich um Rat frage, meint, ich solle mich an den Schalter wenden. Am Zielbahnhof tue ich dies. Die Frau am Schalter ist freundlich, meint aber, sie könne da nichts machen. Mit dem Bus hat die Bahn nichts zu tun, also ist es nicht ihre Angelegenheit und das Busunternehmen würde ähnlich argumentieren. Das nicht genutzte Ticket kann ich auch nicht stornieren, da es ein Sparpreis ist.

WHAT? Ich bin stinksauer auf Bus und Bahn und die Beschissenheit der Situation. Das ich „wegen denen“ jetzt erst einen Tag später heim  komme, so viel „Stress hatte“ und dass ich jetzt auf 27 Euro zusätzlich sitzen bleibe!

Wenn ich genau hin höre, bin ich auch sauer auf mich, weil ich so brav war und mir diese zweite Fahrkarte kaufte, anstatt mit meinem bezahlten Ticket zu fahren und mein Anliegen ggf. dem Schaffner vorzutragen. Notfalls hätte ich im Zug nachlösen können. Aber aus Angst, es nicht recht zu machen und dem Wunsch nach einer entspannten Fahrt, habe ich das Ticket gekauft. Entspannt, weil ich ohne gültiges Ticket die gesamte Fahrt dauer-angespannt gewesen wäre. Kommt jetzt der Schaffner? Wird er kulant sein und mich „verstehen“? Wird er mich „bestrafen“? Was wird er tun?

Neben der „Angst vor Bestrafung“ bemerke ich auch eine Art „Angst vor Autorität“.

Bereits hier ist etwas deutlich vermischt.
Einerseits ist da die Bahn mit Ihren Regeln die mir bekannt sind und es ist der Job des Schaffners, auf gültige Fahrkarten zu kontrollieren. Mit der Entscheidung mit der Bahn zu fahren, akzeptiere ich diese Regeln und eventuell daraus resultierende Konsequenzen. Tue ich dies nicht, muss ich es lassen. Simpel.
Andererseits ist da ein Automatismus, bei dem ich mich gegenüber einer Person, welche exekutive Macht hat, automatisch klein mache. „Bitte tu mir nichts, ich bin auch echt lieb“. Ich mache mich selbst durch meine konstruierte Geschichte im Kopf zum Opfer.

Diese Opferhaltung erlebe ich auch in der Situation am Schalter. „Die sind so stur. Ich habe doch zwei Tickets und nur eines genutzt. Die sind schuld das jetzt so viel Geld und Zeit am Arsch ist. Die hätten doch wirklich noch 3 Minuten warten können – sonst seid ihr doch auch immer zu spät!“

Ich fluche noch 5 Minuten vor mich hin und finde alles zum kotzen. Selbst der Dame am Schalter, die nur korrekt ihren Job gemacht hat und gerade keine Idee hat, wie sie mir weiter helfen kann, könnte ich an die Gurgel. Arghhh. Kann Sie mir nicht wenigstens die nicht genutzte Fahrkarte erstatten? Es würde mich ein wenig milde stimmen.

Erst als ich merke, wie sehr beschissen alle anderen sind und die ganze Welt gegen mich, und das ich, anstatt mich noch an den wunderbaren Begegnungen des Wochenendes zu freuen, nur mit wütenden und vorwurfsvollen Gedanken anfülle, beginnt das Drama sich langsam etwas zu klären. Ich beginne mit der einfachen Frage an mich selbst:

„Wo ist meine Verantwortung“?

Mein Verteidigungssystem (VS) reagiert als erstes: „Hör mir auf mit Verantwortung! Ich habe alles korrekt gemacht und jetzt soll ich zwei Fahrkarten bezahlen, obwohl ich nur eine genutzt habe und nicht schuld bin?“

Hmmm… auch alle anderen beteiligten Personen haben „alles korrekt“ gemacht. Also noch einmal. Wo ist meine Verantwortung?

OK OK (Mein Verteidigungssystem wird auf lautlos gestellt)

Meine Verantwortung

  1. Ich habe mich für die Reise mit Bus und Bahn entschieden.
  2. Beim Bestellvorgang habe ich die kurze Umsteigezeit vom Bus in die Bahn bereits bemerkt. Im Nachhinein kann ich mich sogar daran erinnern, dass ich dabei einen leisen Impuls übergangen habe, der hier unsicher war.
  3. Ich habe mich für den etwas günstigeren Sparpreis entschieden, von dem ich wusste, dass ich ihn nicht stornieren kann.
  4. Ich habe mich gegen eine Weiterfahrt am Abend und für einen Besuch bei der Schwester entschieden.
  5. Ich bin morgens nur 10 Minuten vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof gewesen, um mein Anliegen am Schalter zu klären und habe somit in Kauf genommen, dass bei einer Warteschlange nicht ausreichend Zeit mehr für Klärung besteht.
  6. Ich habe das zweite Ticket freiwillig, aus den zuvor genannten Gründen gelöst.

Und genau genommen habe ich mich etwas diebisch über den Busfahrer gefreut, der sich auf meine Nachfrage nicht sicher war, ob ein Handyticket auch für seinen Bus gilt und mich kostenlos mitfahren lassen hat. Dabei habe ich gewusst, dass ich den Bus separat bezahlen muss. Upsss.

So sichtbar zu sehen, wo ich überall entschieden habe und wie ich jetzt die Verantwortung dafür leugne und die Schuld den anderen gebe, erschreckt mich im ersten Moment und sofort folgt totale Entspannung. Ja, so habe ich mich entschieden. Die Wut und der Opferanteil sind fast völlig verstummt.

Dachte ich zumindest. Ein beleidigtes VS meldet sich wieder und fordert sein Opferdasein zurück. „Soll das heißen, ich bin selbst schuld und meine Wut ist völlig unberechtigt und den ganzen Stress muss ich immer mit einplanen? Was für einen Mist erzählst Du hier?“

Inzwischen amüsiert es mich ein wenig, mir selbst zuschauen zu können und mein eigenes System beim Rotieren zu beobachten. Und gleichzeitig sind die Emotionen, die mein VS großzügig ausschüttet, deutlich spürbar.

Also mein Lieber: Das Denken in „Schuld“ und „Unschuld“ bringt dich nicht weiter. Es schafft nur Distanz – vor allem zu Dir selbst. Es ist der Versuch, Dich dort, wo Du Dich klein und den anderen damit automatisch größer als Dich gemacht hast, wieder groß zu machen. Hier geht es darum Entscheidungen zu treffen und bewusst dafür in die Verantwortung zu gehen. Mit wem und was beschäftigst Du Dich seit gestern Abend? Mit Dir, dem wunderbaren Workshop, dem tollen Feedback und den strahlenden Gesichtern der berührten Menschen? Oder mit Deiner Geschichte, dass die anderen so gemein zu Dir sind und Schuld daran haben, dass es Dir schlecht geht? Für welche der beiden Geschichten entscheidest Du Dich? Welche tut Dir gut und nährt Dich?

Deine Wut ist total angemessen. Den letzten (zumutbaren) Zug am Abend um 3 Minuten zu verpassen, wenn Du erschöpft bist und gerade nur noch heim magst, ist richtig frustrierend. Sei 3 Minuten voll mit dieser Wut und dem Schmerz und der Traurigkeit darüber, dass es gerade nicht so läuft, wie Dein Plan und Konzept es vorgesehen hat und es Deinen Bedürfnissen entspricht. Und dann öffne Dich den Möglichkeiten und Gelegenheiten des Lebens. Freue Dich an dem Gelungenen. Freue Dich daran, dass Dich die Schwester 15 Minuten später abgeholt hat und Du sogar früher auf der Couch liegen konntest als gedacht. Die 27 Euro kannst Du dem braven Teil in Dir in Rechnung stellen. Und Deinen Rebellen kannst Du dazu ermuntern, ab sofort mehr für Dich als für Regeln einzutreten und den Mut zu haben, sich unangenehmen Situationen zu stellen.

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